WIE STILL IST DIE STILLE?

Vorhang auf für eine endlose Geräuschkulisse: morgens Kaffeemaschine und Radio, später die aufgeregte Büro-Hektik, schließlich Straßenlärm, Gedudel beim Einkaufen und zum Einschlafen noch schnell ein Podcast. Es hagelt Dezibel-Attacken von allen Seiten. Keine Frage, unser Leben ist laut. Aber die Sehnsucht nach Stille steigt. Wollen wir uns dem Thema auf leisen Sohlen nähern? Dann tauchen fast automatisch Bilder auf, die diese spezielle Klangfarbe sehr anschaulich umschreiben. Der rieselnde Schnee, die schleichende Katze, die Mutter, die ihr Kind „stillt“. Stille als Wahrnehmung, als Frage der Perspektive, als eine äußerst individuelle Empfindung. 

Während der Eine beim Rasen mähen runterfährt, kommt die Andere erst beim beständigen Meeresrauschen zur Ruhe. Dabei kann schon ein vergleichsweise leise gesprochenes Wort die Stille zerreißen wie ein Düsenjet. Für viele ist es erst dann still, wenn kein störendes Geräusch, keine laute Bewegung mehr nervt. Genau das aber ist in einer Welt der durchgängigen „Marktschreierei“ gar nicht so einfach. Dass der Umgebungslärm jedes Jahr zunimmt, empfinden laut einer Umfrage drei Viertel aller Deutschen so. Lärmbelästigung ist kein kleines Übel, sondern macht krank. Zu den möglichen Folgen zählen Gehörschäden, Herzinfarkt, Arterienverkalkung, Bluthochdruck, erhöhter Blutzucker – und natürlich Stress. Und gegen diesen Lärmstress können wir uns schlecht wehren. Denn unser Hörsinn lässt sich nicht bewusst an- oder abschalten. An Lärm kann sich keiner gewöhnen. 

Umso merkwürdiger, dass es so wenig Räume der Stille gibt. Ganz im Gegenteil: Weil Stille aus Sicht der Verkaufspsychologie konsumhemmend wirkt, ist die meist aufdringliche Hintergrundmusik in Verkaufsräumen inzwischen Standard. Aber so ganz ohne Geräusche? Das könnte gefährlich werden. Besonders, wenn man Menschen in dunklen, schalldichten Räumen isoliert, können Angstzustände, Halluzinationen oder Denkstörungen die Folge sein. Mindestens! Diese grausame Technik wird zum Beispiel bei der weißen Folter und zur Gehirnwäsche eingesetzt. Fakt ist: Die totale Stille überfordert unser Gehirn. Der Neuropsychologe Erich Kasten vermutet, dass sich zwei Bedürfnisse gegenüberstehen: „Die eine Seite sehnt sich nach Stille und Erholung, die andere nach Beschäftigung. Das Verrückte ist: Unser Gehirn braucht die Stimulation. Es schreit danach wie ein kleines Raubtier.“ 

Gleichzeitig schrecken viele Menschen vor der Stille zurück. Denn sie konfrontiert uns – mit uns selbst und den anderen. Das pausenlose Geschnatter im Ruheraum einer Sauna oder das permanente Geplapper im Zug deuten darauf hin, dass es für viele nichts Schlimmeres gibt, als einfach mal den Mund zu halten. Psychiater Carl Gustav Jung brachte dieses Phänomen schon in den 1950er-Jahren auf den Punkt: „Der Lärm schützt uns vor peinlichem Nachdenken, er zerstreut ängstliche Träume, er versichert uns, dass wir ja alle zusammen seien und ein solches Getöse veranlassen, dass niemand es wagt, uns anzugreifen.“ Wenn wir uns aber bewusst auf eine Ruhephase einlassen, so der Forschungsstand, werden wir belohnt: Wir treffen die besseren Entscheidungen und lösen leichter Probleme. 

„Außerdem aktiviert das Hirn im Ruhezustand einen Modus, bei dem wir in einen inneren Fluss kommen, unsere Empathie wird gestärkt, wir werden kreativer und reflektierter“, erklärt Erich Kasten. Ferner öffnen sich Fenster für Entspannung, Besinnung, Beschaulichkeit, für Kontemplation und Gebet. Und wenn es in uns stiller wird, wird unser Bewusstsein umso klarer. Dann fahren wir nicht mehr besinnungslos Gedankenkarussell, sondern empfinden Verbundenheit und inneren Frieden. Auch der Körper reagiert positiv. Studien belegen, dass regelmäßige Stille unser Gehirn belebt und Zellen erneuert, die lebenswichtig sind: zum Lernen, zum Erinnern, zum Fühlen. Diese Erkenntnis könnte auch im Zusammenhang mit Depressionen und Alzheimer an Bedeutung gewinnen. Für die meisten Experten steht inzwischen fest, dass wir eine Lebenswelt brauchen, in der sich Geräuschvielfalt und Stille abwechseln. Wie in der Musik. Ob Heavy Metal oder sanfte Balladen: Musik lebt auch von ihren Pausen!

PS: Es gibt Menschen, die reden nicht nur über die Stille, sondern schöpfen aus der Ruhe ihre gesamte Kraft? Möchten Sie mehr erfahren? Dann schauen Sie hier vorbei.

Quelle: weltraum, Foto: Janina Snatzke

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