PERFEKTE KÖRPER

Ohne Körper wären wir unsichtbar. Erst wenn Geist und Seele eine Hülle haben, erwacht der ganze Mensch zum Leben. Eines beeinflusst das andere. Das wusste schon Aristoteles: „Ändert sich der Zustand der Seele, so ändert dies zugleich auch das Aussehen des Körpers und umgekehrt.“ Inzwischen müsste man allerdings ergänzen: Ändert sich die Gesellschaft, ändern sich auch körperliche Ausdrucksformen. Der Soziologe Christian Steuerwald beobachtet, wie sich soziale Strukturen in die Körper „einschreiben“. Und er hält fest, dass sich unsere Körper, aber auch körperliche Verhaltens- und Sichtweisen als Folge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse verändern. Was heißt das genau? In der Regel entsprechen wir exakt den Bildern, die gerade gesellschaftlich und kulturell angesagt sind. Konkret geht es um Schönheitsideale, um Körperformen, um äußere Merkmale. Also um Frisuren, Bärte, Fingernägel, Schminke, Tattoos und Co. Das Erscheinungsbild ergänzen aber auch Kleidung, Schmuck und die Art, wie wir uns verhalten. All das ist an bestimmte Rollenbilder geknüpft. So ist das Aussehen und Auftreten eines Tagesschau-Sprechers ein anderes als das eines Rockmusikers. Und eine Managerin unterscheidet sich bereits rein äußerlich von der Kassiererin im Supermarkt. Wie stark diese äußeren Rollenbilder ins Schwanken geraten, erkennt man spätestens dann, wenn man plötzlich seinem Chef in der Sauna gegenübersteht.

Der Körper wird in Szene gesetzt

Heute gibt es aber einen zusätzlichen, ganz entscheidenden Faktor, der unsere körperlichen Ausdrucksmittel enorm erweitert, sagt die Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen. „Unseren Körper betrachten wir als etwas, das wir heutzutage stark verändern und optimieren können. Sozusagen als eine teure Ware, in die wir investieren müssen.“ Sie führt dieses Phänomen auf die immer stärkere Individualisierung des Einzelnen zurück. „In der westlichen Welt sind wir dazu aufgefordert, die eigene Identität herauszubilden. Früher geschah das über den gesellschaftlichen Stand. Man war Arbeiter, Angestellter oder Bauer, und damit war die Identität für das ganze Leben festgelegt. Heute muss man ein eigenes Profil haben, ganz gleich welches. Deshalb ist das Aussehen wichtiger geworden und der eigene Körper das Medium, über das die Identität ausgedrückt wird.“ Ob über Fitness oder schönheitschirurgische Eingriffe: Wer seinen Körper optimiert, darf auf bessere Chancen hoffen. Sei es im Beruf oder bei der Partnerwahl. Ferner wirbt ein überdimensionierter Fitness- und Gesundheitsmarkt mit dem Versprechen „Macht alle mit! Dann lebt ihr gesünder und länger“. Geht es aber wirklich nur darum? „Das Entscheidende heute ist nicht unbedingt, dass man fit ist, sondern fit aussieht“, sagt Ada Borkenhagen.

Vorbilder, die keine sind

Wer bestimmt eigentlich, welchen Körperidealen wir nacheifern? Experten verweisen auf das Zusammenspiel von Moden, Vorbildern und medialer Verbreitung. Während Social-Me- dia-Kanäle für Hochgeschwindigkeit und große Reichweite sorgen, erzeugen beispielsweise Bildbearbeitungsprogramme unrealistische Körperbilder. Besonders Jugendliche beschäf- tigen sich exzessiv mit ihrem Körper und inszenieren sich permanent in sozialen Medien. Aber auch die Erwachsenen mischen kräftig mit. In diesem Ringen um Aufmerksamkeit verzerren mediale Bilder extrem die Wahrnehmung der eigenen Körperform. Das Tragische: Diesen Wettbewerb der Eitelkeiten wird keiner gewinnen. Denn mit dem nächsten Posting entsteht schon wieder ein neuer Trend. „Unser Körper wird immer mehr zur Projektionsfläche“, sagt die Philosophin Saskia Wendel.

Es existiert aber auch eine Gegenströmung. Deren Vertreter streben ein ganzheitliches Bild des Menschen an. Menschen, die auch ihr Innenleben ernst nehmen. Die denkend und füh- lend mit ihrem Körper im Einklang sein wollen. Dieser Ansatz drückt sich beispielsweise in psychosomatischen Heilansätzen und ganzheitlichen Lebenseinstellungen aus.

Was bleibt festzuhalten? Menschen sind nicht perfekt. Auch kein Körper ist es. Vielleicht zeugt aber genau dieses Unperfekte von wahrer Schönheit. „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, heißt es bei Friedrich Schiller. Und möglicherweise ist unser Körper einfach nur eine Raumkapsel, mit der wir durch unsere Lebenszeit reisen. Machen wir etwas daraus!

Lässt sich Schönheit operieren?

Erkenntnisse von Dr. med. Thomas Flietner, Facharzt für Chirurgie und Plastische Chirurgie

Was verstehen wir unter attraktiv, was definieren wir als unansehnlich? „Je mehr man sich mit dieser Trennung beschäftigt, umso weniger klar kann man für sich und andere nachvollziehbar den Unterschied beschreiben“, betont Dr. med. Thomas Flietner, Facharzt für Chirurgie und Plastische Chirurgie. „Den Rahmen dazu stecken allerdings wir alle. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass vor allem jene Menschen meist bevorzugt werden, die gesellschaftlichen Idealen nahekommen. Sei es bei der Partnerwahl oder im Job. Wenn Prominente und Models das Maß aller Dinge sind, dann wird es doch zwangs- läufig gerade Frauen schwerfallen, mit ihrem eigenen Aussehen zufrieden zu sein. Darüber hinaus sorgen die körperbetonten Selbstdarstellungen auf den Social-Media-Kanälen für zusätzlichen Druck. Und gleichzeitig prangern wir die Menschen an, die diesem Druck kein ausreichendes Selbstbewusstsein entgegen- setzen können. Das klingt für mich paradox.“ Für Thomas Flietner spiegeln sich diese Widersprüche in Beratungsgesprächen mit seiner vorwiegend weiblichen Klientel wider. Frauen zwischen 18 und 70 Jahren erhoffen sich durch eine OP weniger ästhetische, aber auch funktionale Beeinträchtigung, dadurch mehr Attraktivität und koppeln dies leider oftmals an ihr Selbstwertgefühl. Bei seinen Entscheidungen setzt der Arzt auf seinen weiten Erfahrungshorizont. Der Chirurg und Dozent hat beispielsweise in Pakistan afghanische Verwundete und Flüchtlinge operiert und war Leitender Oberarzt an der Plastischen Chirurgie und dem Zentrum für Schwerbrandverletzte in Berlin. 1994 hat er als Ärztlicher Direktor die „Collegium-Klinik für Plastisch-Ästhetische und Rekonstruktive Medizin“ in Kiel aufgebaut. Er arbeitet auch an den Standorten in Hannover und Braunschweig.

Seine persönliche Bandbreite umfasst Rekonstruktionen so- wie Formungen an Gesicht, Brust und Bauch. Besonders hoch im Kurs stehen Brust-OPs. „Ich beschäftige mich mit medizinisch begründeten Eingriffen mit plastisch-ästhetischem und funktionalem Hintergrund. Grundsätzlich möchte ich Menschen dabei unterstützen, dass sie mit sich und ihrem Körper in Harmonie leben und dies nicht von einer OP abhängig machen, sondern als Ergänzung sehen. Wenn ich davon nicht überzeugt bin, führe ich die OP nicht durch, rate davon ab. Ich stehe zu meiner Verantwortung und würde prinzipiell nur das tun, was ich auch meinen eigenen Angehörigen guten Gewissens empfehlen kann.“

In seinen Beratungsgesprächen will der Chirurg heraus- finden, ob er überhaupt weiterhelfen kann und will. „Ich muss erkennen, dass eine Patientin oder ein Patient mit sich zufrieden und im Einklang ist. Hat die Person genug Selbstbewusstsein, um sich auch mit ihrem vermeintlichen Makel ins Freibad zu trauen? Dann bin ich bereit zu helfen. Wer aber grundsätzlich nicht zu seinem Körper steht, wird immer etwas finden, was ihn stört. Schließlich müssen wir alle lernen, mit unseren körperlichen Gegebenheiten zu leben. Ganz gleich, welches Schicksal wir erlitten haben.“ Hat sich sein Schönheitsbild eigentlich im Laufe der Jahre verändert? „Ich kann nicht sagen, dass ich in- zwischen nur noch auf innere Werte achte. Aber heute verbinde ich mit Schönheit aus meiner Lebenserfahrung heraus das, was die Person als Ganzes ausstrahlt.“ Und welche Vision einer Gesellschaft hat jemand, der immer wieder Bilder der Schönheit mit dem Skalpell zeichnet? „Wir sollten andere nicht aufgrund ihrer persönlichen Schönheitsideale stigmatisieren und viel- leicht auch ausgrenzen. Jeder von uns folgt doch selbst irgendwelchen Idealen, die andere möglicherweise ebenso nicht nachvollziehen können und reklamiert für sich dabei Respekt und Akzeptanz. Gerade diese vehemente Pluralität prägt eine Gesellschaft. Ganz gleich, ob es um die Wahrnehmung oder um eine Lebenseinstellung geht. Wenn sie niemandem schaden, gibt es keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu zeigen. In dem Maße, in dem man das anerkennt, hätten wir es weniger mit Doppelmoral zu tun – und würden uns eher als Teil einer großen Gemeinschaft verstehen.“

Juni 2021, weltraum, Grafik: Kerstin Krempel

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