VISIONEN AUS DEM AQUARIUM

Für mich zählt Daniel Goeudevert zu den inspirierendsten Persönlichkeiten, die ich je kennenlernen durfte. Dieses Interview aus dem Jahr 1996 zeigt, wie visionär seine Sichtweise damals war. Als ich ihn in Hannover traf, war sein Buch „Wie ein Vogel im Aquarium – aus dem Leben eines Managers“ gerade ein Bestseller. Volkswagen boomte und das Management schien offensichtlich kaum Fehler zu machen. Ein guter Zeitpunkt also, um das ehemalige VW-Vorstandsmitglied zu Wort kommen zu lassen. Goeudevert war zunächst für den Einkauf zuständiges Vorstandsmitglied der Volkswagen AG. Ab 1991 verantwortete er den Bereich Marken. Er galt als Kreativdenker, der ungewöhnliche Ansichten und Managementmethoden vertrat und dabei auch die menschliche Seite des Geschäfts nicht vergaß. Der damalige Topmanager unterstützte den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und befürwortete die Entwicklung umweltfreundlicher Autos. Letztlich scheiterte Goeudevert bei VW mit seinem Ansatz. Auch wegen der eher traditionellen Linie, die damals Volkswagen fuhr – und nicht zuletzt wegen eines Ferdinand Piëch. 1993 verließ Goeudevert den Konzern.

Herr Goeudevert, haben Sie den Eindruck, dass es der deutschen Wirtschaft an Paradiesvögeln mangelt?

Die Wirtschaft ist zurzeit in solch einem Geschwindigkeitsrausch, die Amerikaner nennen das Turbo-Kapitalismus, dass man keine Zeit mehr hat, sich langfristige Gedanken über die Zukunft zu machen. Gefragt sind Ergebnisse: so schnell, so üppig, so hoch wie möglich. Das Kapital Börse spielt heute eine größere Rolle als das Kapital Arbeit. Es ist eine Welt, die zurzeit ihre Marken sucht. Die Wirtschaft läuft wie bei einem Stabhochspringer, der die Absprungmarke nicht richtig findet und dadurch sein Ziel verfehlt. Und das Ziel der Wirtschaft ist für mich, die Menschen glücklicher zu machen und nicht eine Handvoll Investoren.

Ein schönes Ziel! Herr Goeudevert, sind Sie denn glücklich?

Im Moment fühle ich mich ganz wohl. Aber Glück ist natürlich der Höhepunkt des Wohlseins und den erreicht man nur, wenn man überhaupt weiß, was Glück eigentlich bedeutet. Man muss eine Ruhe in sich selbst und einen Abstand zu sich und zur Realität finden.

Sind Top-Manager hoch bezahlte Autisten?

Ich habe am eigenen Leib gespürt, dass einiges für das Bild des Autisten spricht. Ich habe gemerkt, dass ich weltfremd geworden war. Ich lebte und lebe teilweise noch in einer relativ lebensfremden Realität. Man ist ich-bezogen und sagt, erfolgreiche Manager müssen machtbesessen sein. Deshalb ist Autismus kein böses Wort, sondern nur eine Beschreibung aus der Medizin, die sehr gut zu der Psyche eines Managers passt.

Das wird die Manager aber ärgern ...

Ja, vielleicht. Aber mein Buch ‚Wie ein Vogel im Aquarium‘ ist ja nicht nur Honig. Es hat mich schon geärgert, als ich plötzlich in das Leben einer Partnerschaft zurückkehrte und feststellen musste, dass ich die Realität nicht mehr wahrnehmen konnte. Das Wiedererlernen dieser Wahrnehmungsfähigkeit ist so ein mühsamer Prozess, dass ich bei einem Neuanfang darauf achten würde, diesen Realitätsverlust nicht mehr zu akzeptieren. Wenn ein Manager sich also ärgert, finde ich das gar nicht schlecht. Denn entweder fühlt er sich nicht angesprochen, dann muss er beweisen, dass er kein Autist ist. Oder es betrifft ihn, dann hat er die Chance, etwas dagegen zu tun.

In diesem Fall wäre die Fähigkeit einer guten Selbsteinschätzung gefragt. Oder wie soll der eben angesprochene Manager sonst eine ehrliche Antwort finden?

Vielleicht sollte er einfach mit seiner Frau sprechen. Obwohl das natürlich problematisch ist. Denn der Manager ist ja auch in der Partnerschaft ein schwieriger Mensch. Es ist ja auch fraglich, ob der Top-Manager, ähnlich wie der Politiker, überhaupt Karriere machen kann, wenn er an seiner Seite eine kritische Frau hat. Wie hat sich die Frau eines Managers zu verhalten, damit ihr Mann ohne private Hindernisse Karriere machen kann. Und ich frage mich noch weiter: Wenn irgendwann – und das ist mein Wunsch – genauso viele Frauen Top-Manager werden, was ist dann die Rolle ihres Mannes? Ich bin so weit, dass ich sagen kann: Wenn ich eine kritische Frau an meiner Seite gehabt hätte, dann wäre das für meine Karriere ein Hindernis gewesen.

Siemens Ingenieure haben errechnet, dass das Auto, wenn es sich so wie die Chip-Technologie entwickeln würde, nur noch fünf Kilogramm wiegen, 5000 km/h schnell sein müsste und dabei nur fünf DM kosten dürfte. Wie sieht Ihre Vision von guten Fahrzeugen aus?

Das, was aktuell getan wird, ist eine permanente Optimierung bis zur Perfektion vorhandener Produkte und Systeme. In der Elektronik war dieser Quantensprung notwendig. Aber das Auto muss als Verkehrsmittel ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden Gesellschaft weltweit werden. Als Verkehrsmittel, nicht als Statussymbol. Als Statussymbol ist das Auto ein Hindernis. Eine Wirtschaft braucht Mobilität, also auch Autos. Was derzeit produziert wird – bei allem Respekt und bei aller Bewunderung für die Produkte: Man rührt nur im eigenen Saft. Das heißt, man bietet ein noch besseres Auto als das, was ich vor zwei Jahren gekauft habe. Aber ich möchte, dass der Afrikaner, der immer noch zu Fuß zur Quelle geht, ein System hat, das sein Leben erleichtert. Die Funktion des Automobiles ist für mich immer wichtiger gewesen als das Auto an sich. Natürlich mag ich das Auto und ich muss im Nachhinein sagen, dass heute vieles auf dem Markt ist, was ich viel zu früh im Kopf hatte. Leider haben mich gerade Ingenieure nicht ernst genommen, weil ich keiner bin und mir nicht zugetraut wurde, dass auch ich Ahnung von dem Thema habe. Wie in Wolfsburg, als man mich dafür belächelt hat, dass ich den VfL, als er noch in der Regionalliga spielte, als Verein für die Bundesliga gesehen habe.

Ist es für Sie als Visionär nicht eine grundsätzliche Herausforderung, mit Ingenieuren zusammenzuarbeiten, die per se nicht gerade für ihren Fantasiereichtum bekannt sind?

Ich glaube einfach, dass die Welt von morgen eine Welt von Teams sein wird. Der Visionär kann nicht unter dem Druck des gegenwärtigen Geschehens Fantasien entwickeln. Ebenso wenig wie der gute Ingenieur, der ja damit beschäftigt ist, dass alles sofort perfekt klappt. Beide, Ingenieur und Visionär, sind wichtig und müssen einen Weg finden, um zusammenzuarbeiten.

Warum haben Sie nicht mit Ferdinand Piëch so ein Dream-Team bilden können?

Ohne jetzt bemüht nett sein zu wollen: Das, was er und VW zurzeit umsetzen, ist hervorragend. Ich hätte mir gewünscht, dass ich bei mir die Wege gefunden hätte, mit einem solchen Ingenieur zusammenzuarbeiten. Und dass er vielleicht auch einen Teil meiner – manchmal auch ungezügelten Fantasie – umgesetzt hätte. Denn der kann umsetzen – Dinge, die ich nicht realisieren könnte. Aber ich habe manchmal Ideen, die andere eben nicht haben. Deshalb sind Teams so wichtig. Die Probleme sind viel zu komplex geworden, um in der Hand von ein paar Menschen zu bleiben. Vielleicht war gerade ich nicht bereit für diese ‚Hand in Hand-Führung‘. Aber das ist passé. Heute sieht man, dass die Führung von VW – und das ist nicht nur Ferdinand Piëch – versucht, eine schöne Mischung von Aktionärs-, Produkt- und Qualitätserfolg umzusetzen, verbunden mit sozialem Engagement für die Mitarbeiter. Das kann natürlich nie perfekt sein. Aber ich frage ganz neidlos und mit viel Bewunderung und Respekt für die Arbeit dieses Vorstands: Welche Firma in Deutschland ist heute in der Lage, so eine Bilanz zu ziehen? Wer hat versucht, sich außerhalb des normalen Rahmens Gedanken zu machen für die Pensionäre, für die Zukunft der Mitarbeiter. Bei aller möglicher Kritik ist VW zurzeit ein Musterknabe. Insofern bin ich natürlich traurig, nicht dabei zu sein. Denn das ist genau die Welt, die ich mir immer gewünscht habe. Natürlich ist das noch nicht perfekt, aber der Weg, den man da eingeschlagen hat, ist nicht uninteressant.

In ihrem Buch beginnen Sie das Kapitel Volkswagen mit einem Zitat von Baudelaire über die Einsamkeit. Warum?

Es war meine höchste Position, die ich in der deutschen Wirtschaft erreicht hatte. Und man kann sich schon einsam fühlen dort oben. Trotz aller Bemühungen von Carl Hahn, aus dem Vorstand ein echtes Team zu machen, ist alles ein bisschen auseinandergegangen. Das lag natürlich auch an der Wiedervereinigung, den neuen Märkten in Asien, Südamerika etc.. Das Wachstum wurde so riesig, dass das Ganze gebröckelt hat. Obwohl ich 25 Jahre in der Automobilindustrie gewesen bin, davon fünf bei VW, hinterlassen diese die tiefsten Spuren bei mir. Ich hätte noch wahnsinnig gerne zehn bis 15 Jahre dort gearbeitet. Obwohl man immer fragt: Wie kann man in Wolfsburg leben? Aber die Menschen wissen nicht, wie eine solche Stadt, die so von der Aktivität eines einzelnen Unternehmens abhängt, faszinierend sein kann. Die Menschen brauchen viel Liebe und Verständnis. In Wolfsburg haben Sie das Gefühl, alles steht wie ein Ei da. Sie müssen nur versuchen, das Gelbe vom Weißen zu trennen. Ich habe versucht, das im Buch zu erklären. Mit meinem blöden Versuch, als ich Chef von VW wurde, zu sagen: Jetzt müssen wir VW fahren. Das war ein Fehler, weil ich damals die Stadt zu wenig verstand. Gleichzeitig hat dies mir eine ganz tiefe Einsicht in die Psyche der Mitbürgerinnen von Wolfsburg gegeben. Was gleichzeitig hilfreich war für das Verständnis meiner Mitarbeiter. Wenn man Wolfsburg nicht versucht zu verstehen, hat man als Chef von VW nur die halbe Miete. Man muss den Mikrokosmos der Stadt akzeptieren. Man lebt in Wolfsburg, man geht in die Kneipen, man geht auf den Markt am Samstag. Man sollte die Menschen kennen. Natürlich ist das manchmal eine leise Belästigung, wenn jeder zweite Dich anschaut oder Dich begrüßt, aber das ist in Wolfsburg wichtig. Ich mit meiner Art, in jede Ecke zu gucken, war schon fast auf dem Weg, ein Grundstück in dieser Stadt zu kaufen … Wolfsburg, das ist schon eine interessante, faszinierende Geschichte: Wolfsburg und Volkswagen. Volkswagen und Wolfsburg.

- 1996, Magazin WNX für die Wolfsburger Nachrichten, Foto: Stuart Mentiply

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