JA? NEIN? VIELLEICHT!

„Ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier!“ Als Nina Hagen diese Zeilen Ende der 1970er- Jahre ins Mikro röhrte, reagierte die Sängerin auf eine Handvoll TV-Kanäle, die damals über den Bildschirm flimmerten – mit relativ junger Farbtechnik. 40 Jahre später ist alles noch viel bunter. Und das nicht nur im Entertainment-Bereich. Unsere Wahlmöglichkeiten sind auf fast allen Ebenen geradezu explodiert.

Ob banal oder weitreichend: Wir sind im Privatbereich wie im Arbeitsleben permanent gefordert, Entscheidungen zu treffen. Diese scheinen uns zwar dann leichter zu fallen, wenn wir auf Erfahrungswerte zurückgreifen können und bewährten Mustern folgen. Souverän geht aber anders. Psychologen weisen darauf hin, dass wir bei Entscheidungen dazu neigen, die uns vertrautere Alternative zu wählen. Und ganz nach dem Motto „Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt“ werfen wir häufig einen viel zu engen Blick auf die komplette Entscheidungssituation. So gelingt es uns dann, auf wundersame Weise sogar „schlechtere“ Entscheidungen schönzureden. Oder wir erliegen dem „ Dilemma der Kompromiss- Entscheidungen“.

Ein Kompromiss allein mag noch unbedenklich sein, eine Reihe von Kompromiss-Entscheidungen kann uns aber auf lange Sicht von unserem eigentlichen Ziel sehr weit wegtreiben. Wie aber können wir bessere Entscheidungen treffen? Was bringt uns weiter? Werfen wir zunächst einen Blick auf unsere Potenziale. Wir verfügen über die phänomenale Fähigkeit, rational zu denken. Spätestens seit dem Neurowissenschaftler António Rosa Damásio wissen wir aber, dass der Verstand ohne unsere Gefühlswelt völlig in der Luft hängt. Wäre der emotionale Teil unseres Gehirns ausgeschaltet, könnten wir keine einzige Entscheidung treffen. Ratio und Emotion beeinflussen sich also gegenseitig. Liegen Gefühl und Verstand aber im Clinch, kommt es zur Kraftprobe. Wer gewinnt: Kopf oder Bauch? Auf den Bauch allein scheint auf den ersten Blick auch kein ultimativer Verlass zu sein. Erstaunlich leicht lassen wir uns von unseren unbewussten Vorurteilen, Ängsten und Assoziationen beeinflussen, sagt der Psychologe Daniel Kahnemann. „Menschen verlassen sich oft auf Intuitionen, obwohl sie falsch sind.“

Forschungsergebnisse belegen darüber hinaus: Wenn der Verstand abgelenkt ist, hat das Gefühl freies Spiel. Schön für alle Verliebten, eine böse Falle aber für all jene, die dann beispielsweise auf trickreiche Verkäufer hereinfallen. Dennoch betont Bildungsforscher Gerd Gigerenzer den Wert von Bauchentscheidungen: „Gute Intuitionen müssen Informationen ignorieren. Wenn man in einer unsicheren Welt Entscheidungen treffen möchte, ist weniger oft mehr. Intuition ist die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und … überflüssige Informationen zu ignorieren.“ Intuition beruhe zu einem großen Teil auf Erfahrung, ist „gefühltes Wissen“. Dennoch müssen wir genau das kritisch infrage stellen.

Gerd Gigerenzer weist darauf hin, dass viele Experten es nicht gelernt haben, Risiken zu verstehen, und zum Beispiel Zahlen und Statistiken besser hinterfragen sollten. Gleichzeitig spielt sich unser Arbeitsleben heute in einer VUKA-Welt (siehe Info unten) ab. Sie ist kompliziert, schnell, unsicher und unvorhersehbar – alles hängt miteinander zusammen. Dieser komplexe Kosmos verlangt nach Perspektivwechseln und nach einer neuen Entscheidungskultur. Heute sind weniger „die Entscheider“ da oben allein gefragt als vielmehr eine entsprechende Kultur. Unter dem Begriff „New Work“ (flexible, agile Formen der Arbeitswelt) erneuern viele Arbeitgeber inzwischen ihre internen Strukturen rigoros nach dem Motto: Weg mit verkrusteten Hierarchien und langen Entscheidungswegen!

Wenn aber viele mitreden, dauert es dann nicht ewig, bis eine Entscheidung getroffen wird? Frédéric Laloux, Vordenker der weltweiten New-Work-Bewegung, erwidert: „Das ist ein gängiges Bild, stimmt aber nicht. In traditionellen Unternehmen dauert es oft Monate, bis Chefs über etwas entscheiden, was ihre Mitarbeiter vorher ausgearbeitet haben und was auf allen nötigen Hierarchiestufen darunter abgesegnet wurde.“ Gefragt sei jetzt mehr Interaktion mit den Mitarbeitern und untereinander. Kommunikationsexperte Thorsten Beckmann ergänzt: „Viele Manager fürchten sich angesichts der Tragweite ihrer Entscheidungen vorm Scheitern und den damit verbundenen Konsequenzen: Neben wirtschaftlichen Einbußen für das Unternehmen droht auch der persönliche Macht- und Imageverlust … Wir helfen uns selbst und dem Unternehmenserfolg, wenn wir Mitarbeiter fördern, die Szenarien voraussehen, antizipieren und entsprechend entscheiden können.“

Mehr Akzeptanz ernten besonders die Führungskräfte, die ihre eigenen Zweifel auch gegenüber ihren Mitarbeitern kommunizieren. Zweifeln heißt aber nicht zaudern, sondern ist die Kunst, die Unsicherheit zu ertragen, um schließlich doch zu entscheiden – und zu den Konsequenzen zu stehen. Vor diesem Hintergrund profitieren jene Führungskräfte, die sich ein Gerüst aus Werten und Überzeugungen aufgebaut und ihr Unternehmen entsprechend aufgestellt haben. Wer weiß, wofür er steht, ist klar im Vorteil gegenüber jenen, die lediglich zwischen den Optionen wählen, die ihnen entweder die größten Vorteile oder die wenigsten Probleme bringen. Letztendlich können wir festhalten, dass wir keine besseren Entscheidungen treffen, wenn wir Experten blind folgen oder uns auf Algorithmen und Daten verlassen, ohne sie zu hinterfragen. In einer komplexen, unsicheren Welt fallen uns schwierige Entscheidungen dann leichter, wenn wir immer mal wieder die Perspektive wechseln und die Antwort auf unsere Fragen nicht nur außen, sondern auch in uns selbst suchen.

Die amerikanische Philosophin und „Hard Choices“-Spezialistin Ruth Chang weist darauf hin, dass wir uns vor allem mit solchen Wahlalternativen schwertun, die in einer Werteliga spielen. Soll ich aus Karrieregründen in eine andere Stadt ziehen oder hier bleiben und meine Eltern pflegen? Hinter solchen Entscheidungsdilemmata stehen Werte wie Liebe und Verantwortung, die gegen den Wert der Freiheit schwerlich aufzuwiegen sind. Werte sind nun einmal keine quantifizierbaren Größen. Sie fordern uns laut Chang dazu auf, eine Entscheidung auf der Basis von Beweggründen zu treffen, die nur wir selbst liefern können. Wofür lebe ich? Wer will ich sein? Wie kann ich die Persönlichkeit werden, die ich von ganzem Herzen sein will? Diese Fragen, die sich auch auf Unternehmen übertragen lassen, bringen uns tatsächlich weiter. Nur wenn wir quasi unsere ganze Persönlichkeit als Folie hinter die jeweilige Entscheidungsoption legen, können wir echte Regisseure unseres Lebens werden. Auf diesem Weg sammeln wir Erfahrungen und lernen, intuitiver, entscheidungsfreudiger, mutiger, sogar innovativer zu werden. Bekanntermaßen machen diese Faktoren auch Unternehmen erfolgreicher. Übrigens: Wir bereuen nichts so sehr wie die Entscheidung, etwas nicht getan zu haben. Haben wir aber erstmal eine Entscheidung mit Kopf, Bauch und Herz getroffen und stellen später fest, dass diese Wahl die falsche war, dann ist das selten eine Niederlage für die Ewigkeit. Vielmehr öffnet sich auch dann wieder eine neue Tür – mit der Chance, eine bessere Entscheidung zu treffen.

Was ist VUKA?

(ENGLISCH: VUCA) beschreibt eine Welt, die geprägt ist durch … » Volatilität (volatility): Veränderungen treten überraschend schnell ein. » Unsicherheit (uncertainity): Prozesse und Abläufe werden zunehmend schwerer planbar. » Komplexität (complexity): Aufgrund der digitalen Transformation und der Globalisierung werden Prozesse komplizierter. » Ambiguität/Ambivalenz (ambiguity): Es gibt nicht immer eindeutige Lösungen für ein bestehendes Problem. In der VUKA-Welt wirken diese vier Einflussfaktoren nicht nur isoliert, sondern hängen zusammen. Daraus entsteht eine n icht vorhersehbare Gemengelage, die e s äußerst schwierig macht, auf der Basis von halbwegs zuverlässigen Prognosen sichere Entscheidungen zu treffen.

- Juni 2020, Wolfsburg Plus

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