DER ALTE MANN UND DIE TIEFE

Mai 1996. Wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag treffen Fotograf Joachim Altschaffel und ich Heinrich Heidersberger in seinem Atelier im Schloss Wolfsburg. Als seine Frau Charlotte sich zu uns setzt, antwortet er auf ihre Frage, was wir denn vorhätten: „Ich versuche die beiden Herren etwas zu unterhalten.“

Trotz seines hohen Alters erleben wir einen Mann, der geistig fit und körperlich noch immer voller Energie ist. Während er uns mit der Lässigkeit seines Austria-Dialekts Anekdoten erzählt, Fragen pointiert beantwortet und fundierte Analysen liefert, wird er nicht müde, uns Belege seiner Haltung und seiner fotografischen Schöpfungen zu vermitteln. Dieser Mann will nicht ruhen, ihm steht keine Passivität. So, wie in seinem (Künstler)-Leben wechselt er auch jetzt von einer Sitzgelegenheit zum nächsten Platz. Scheinbar immer auf der Suche nach einer neuen Perspektive. Ständig in Bewegung und ohne Hilfe zu beanspruchen. Auch dann nicht, wenn er auf den Knien Fotomaterial aus dem untersten Regal hervorzieht. Dabei wirkt er immer voll konzentriert, ohne je den Faden zu verlieren. Oder seinen feinen, wohldosierten, ironisch angehauchten – aber nie boshaften – Humor. Den beherrscht wahrscheinlich auch nur einer so exzellent, der das Leben gelebt und nicht nur beobachtet hat. Heinrich Heidersberger ist irgendwie jung geblieben. Ein reifer, weiser Mann in Jeans, der nie in langen Phasen vorausgeplant hat – für den sich immer eins aus dem anderen ergeben hat. Die Erkenntnis, der Weg sei das Ziel, mag für andere nur leeres Geschwätz sein, für Heidersberger scheint sie seinen Lebensrhythmus widerzuspiegeln. Und das nicht dogmatisch, sondern aus einem tiefen inneren Anspruch heraus.

,,Es waren diese kleinen Erlebnisse, aus denen sich etwas entwickelt hat“, sagt er. Jetzt hat es sich eben ergeben, dass die aktuelle Aufgabe darin besteht, seine Vergangenheit aufzubereiten. Und die ist reich an Arbeiten, die seine Kunst als Entstehung, als Prozess, dokumentieren. Sein Atelier ist angefüllt mit Produkten und Reliquien aus seinem Leben. Hier findet sich mehr oder weniger archivierte Fotokunst neben Hilfsmitteln und Werkzeugen. Das liebevolle Chaos eines arbeitenden Künstlers, eines Kunsthandwerkers.

Ohne Bitterkeit, aber mit wenig Verständnis, erzählt er von dem „lächerlichen“ Versuch, als man ihm seitens der Stadt für sein gesamtes Atelier 20.000 DM bot. Wirklich schwer nachvollziehbar, zumal sich wohl keiner diesem unglaublichen Atelier-Ambiente entziehen kann, das ursprüngliche Kraft, kreative Schöpfung und handwerkliche Konstruktivität eines Künstlers versprüht. Ihm wird es nicht annähernd gerecht, wenn man ihn als guten Architektur- und Industriefotografen bezeichnet. Sicher hat er gerade auf diesen Gebieten die wirkungsvollsten Akzente nach außen gesetzt. Ob als Werkfotograf oder Bildjournalist für den Merian oder den Stern (er kennt das Magazin noch aus einer Zeit, als es nur aus fünf Mitarbeitern bestand). Als Dokumentarist der, für die Wiederaufbau-Architektur der Bundesrepublik bedeutenden, Braunschweiger Schule oder als „Hausfotograph“ städtebaulicher Entwicklung der Industriestadt Wolfsburg: Seine Fotos haben Geschichte geschrieben. Belege finden sich in europäischen und amerikanischen Ausstellungsgebäuden und auf den Titeln bedeutender Fachzeitschriften. Für einen Auftrag der Ingenieurschule Wolfenbüttel baut er in den 1960ern sein Rhytmogramm-Maschine, mit der er Schwingungsbewegungen fotografisch festhält. Nicht zuletzt wegen der Wertschätzung eines Cocteau erntet er dafür internationale Anerkennung.

Als Heidersberger über seine Rhytmogramme erzählt, scheinen ihm im Rückblick die menschlichen Erlebnisse, die daraus resultierten, um vieles wichtiger als seine eindrucksvolle Kunstmaschine und deren Produkte. Die allerdings zweifellos der Sprache der Kunstfotografie neue Ausdrucksmittel hinzufügten. Der neugierige, aber nicht zwanghafte Hunger nach Erfahrungen mag auch dafür verantwortlich gewesen sein, dass er sein Architekturstudium in Graz abbrach, um Maler zu werden. Und das im Paris der 1930er-Jahre! Heidersberger zog es in das hyperventilierende Kunstzentrum dieser Zeit, nach Montparnasse. Er erlebte den Ort, wie Henry Miller ihn beschreibt: amerikanisiert, experimentell und schrill. Hier traf er Künstler, die Geschichte schreiben sollten: einige schon Kult, andere noch auf dem Weg dorthin. Und er war dabei, als das Leben in den Pariser Straßen seine spontanen Feste feierte: ,,Dann zogen die Künstler herum und da konnte es sein, dass sie sich nackt auszogen und im Brunnen vor den Cafés badeten."

Viel wichtiger als das anekdotenreiche bunte Leben war ihm in jener Zeit, aber auch später, dass er „Freunde fürs Leben" kennenlernte. Und Freundinnen. Einmal saß er mit mit einer dieser Damen (“Alles rein platonisch”, betont er) aus gemeinsamen Pariser Zeiten in Potsdam auf einer Treppe. „Kiss me!, forderte seine Begleiterin angesichts der faszinierenden Architektur dieser Stadt. Und als er es tat, reagierte sie mit den Worten: „That wasn't a kiss, that was a pack". Wenn Heidersberger derartige Anekdoten preisgibt, spürt man etwas von dem, was ihn ausmacht: Seine ganz spezielle Wahrnehmung und die Energie, diese vermitteln zu wollen – und zu können.

Auch, wenn Heidersbergers Fotos Einflüsse der Malerei nicht verleugnen, blieb er nicht Maler, sondern wurde, weil es sich so ergab, Fotograf. Erst aus der Not heraus, seine Malerei reproduzieren zu müssen. Später, weil sich sein fotografisches Talent schnell bemerkbar machte. Alles begann mit einer Holzkamera und Heidersberger erklärt sich heute seinen Erfolg darin, dass er ein „tüchtiger Amateurfotograf" war, der sich autodidaktisch weiterbildete. Und der, wenn ihm technische Mittel fehlten, diese einfach selbst konstruierte und zusammenbastelte. „Fotografie ist das simpelste Handwerk, das es gibt“, sagt er, „aber ein gutes Motiv muss man erschaffen.” Heute ist schöpferische Fotografie mit einfachen Mitteln, wie er sie beherrscht, weniger gefragt. Zwar registriert Heidersberger die digitale Fotografie als informatives Medium und erkennt den generellen Umbruch in den Medien. Seine Kunst aber ist und bleibt die Schwarz-Weiß-Fo­to­gra­fie. Gleichzeitig sieht er die Analogie zum Film. „Die größten und bewegendsten Filme sind technisch sehr einfach. Für mich erreicht kein moderner Farbfilm das künstlerische Niveau der Klassiker in Schwarz-Weiß.”

Wenn Heidersberger auf seine prägnantesten Erfahrungen zurückblendet, dann gibt es für ihn ein absolute „Negativerlebnis“: das Dritte Reich. Als einer, der an vielen Orten zu Hause war, ohne einen je als seine Heimat betrachten zu wollen, war er entsetzt über so viel „kollektive Blödheit“. Und auch darüber, dass es gerade aus der Wissenschaft und Kunst so wenig Widerstand gab. Dementsprechend begann nach Kriegsende auch seine angenehmste Lebensphase. Er brauchte sich weniger als andere umzustellen, denn er sah „das Widernatürliche verschwinden und das Natürliche zurückkehren.“

Heinrich Heidersberger hätte wahrscheinlich überall arbeiten können. Anfang der 1960er-Jahre entschied er sich für Wolfsburg, weil er nirgends so gute Konditionen zum Arbeiten wie hier vorfand. Er dokumentierte die städtebauliche Entwicklung, hatte große Ausstellungen und arbeitete in seinem Atelier im Südflügel des Wolfsburger Schlosses. Dort hatte er seine Ruhe und gleichzeitig eine gewisse Lebendigkeit durch den Schichtwechsel direkt vor seinem Fenster. Heute ist es ihm oft zu ruhig und er freut sich, wenn schreiende Kinder „etwas Leben in die Bude bringen.“ Bis heute sind es oft die Jüngeren, die in seinem Atelier ein- und ausgehen. „Der Umgang mit der jungen Generation war für mich oft intensiver als mit der älteren. Ab einem gewissen Alter wird man aber uninteressanter für die Jungen." Kaum vorstellbar, denn Heidersberger ist und bleibt ein offenherziger Vermittler. Einer, der im Gegensatz zu vielen anderen, kein Geheimnis aus seiner Kunst macht.

Heinrich Heidersberger ist als Künstler in seinem Bereich zweifelsfrei ein großer. Dass er aus seiner Sicht den finalen Schritt nach ganz oben nicht geschafft hat, sieht er darin begründet, dass ihn immer zu viel gleichzeitig interessiert hat: die Literatur, die Kunst, die Architektur, die Fotografie, die Musik. So blieb wohl den entscheidenden Kunstkritikern und Galeristen die Kategorie, nach der er sich einordnen ließe, verborgen. Wer aber in dem reichhaltigen Werk Heidersberger nicht nur oberflächlich herumstöbert, ahnt schnell, was der große alte Mann schon länger weiß: Es war das Eine, das er auf seinen Fotos zu fixieren suchte – immer wiederkehrende Formen des Kosmos. Unsichtbar, sichtbar oder sichtbar gemacht.

Wenn ich demnächst über Kunst nachdenken werde, wird das weniger mit den Werken in den großen Kunstmuseen zu tun haben. Vielmehr mit diesem Mann, der selbst auf Knien soviel Würde ausstrahlt, wie das nur einer kann, der von Schöpfung mehr als nur eine Ahnung hat. Wenn es darum geht, tiefe Sympathie für unser Leben zu entwickeln, dann hat das sehr viel zu tun mit Menschen wie Heinrich Heidersberger.

Über Heinrich Heidelberger

Seine Fo­tos sind in Europa und Amerika bekannt. Als Industrie- und Architekturfotograf gehörte er zu den ganz großen des letzen Jahr­hunderts. Als dieser Text entstand, fanden in der Städtische Galerie Wolfsburg und im Museum für Photographie in Braunschweig Ausstel­lungen statt, die sein Lebenswerk doku­mentieren. Als dieser Text entstand, erhielt er noch immer Aufträge und war gleichzeitig dabei, sein umfangreiches Lebenswerk aufzubereiten, wobei ihn ein Filmteam begleitetei. Heidersberger hat ne­ben seinen wichtigen Architektur-, Indu­striefotoarbeiten und Rhythmogrammen auch metaphyische Landschaftsfotogra­fien und Akte geschaffen. Sein Foto von der Roggenähre spiegelt sein Schaffen ebenso wider wie das Bild von den Radfahrern in Ko­penhagen oder das des Kraftwerks der Volks­wagen AG. Heidersberger suchte immer nach Wegen, seine Kunst auch zu vermitteln. So gab er noch bis vor wenigen Jahren, gemeinsam mit seiner Frau (einer Spezialistin für Labortechnik), Kurse an der Volkshochschule in Wolfsburg.

Geboren am 10. Juni 1906 in Ingolstadt, aufgewachsen in Linz, studierte Heiders­berger Architektur in Graz, entschied sich dann aber für die Malerei und ging 1928 nach Paris. Er kam zur Fotografie, weil er seine Zeichnungen reproduzieren wollte und interessierte sich für den Surrealismus und die Arbeiten des Malerfotografen Man Ray. Sein Weg führte ihn danach über Linz, Den Haag nach Kopenhagen und 1936 nach Berlin. Heidersberger ar­beitete für Bildagenturen, Illustrierte sowie Bil­dersammlungen und fotografierte 1937 für das Flugzeugwerk Heinkel, wodurch sich sein Ruf als Architekturfotograf be­gründete. 1938 wurde er in den Stahlwer­ken Braunschweig als Industriefotograf eingesetzt, arbeitete als Porträtfotograf, Bildjournalist und für die Architekten der Braunschweiger Schule. 1950 baute er für einen Auftrag der Ingenieurschule Wol­fenbüttel seine Rhythmogramm-Maschine, mit der er Schwingungsbewegungen foto­grafisch darstellen konnte. Hei­dersberger zog 1961 nach Wolfsburg, wo er im Schloss Wolfsburg in Atelier, Werkstatt und Labor arbeitete. Neben vielen anderen Werken dokumentierte er jahrzehntelang für die Stadt Wolfsburg deren städtebauliche Entwicklung. Heinrich Heidersberger starb am 14. Juli 2006 in Wolfsburg.

- Mai 1996, indigo Stadtmagazin Wolfsburg, Foto: Institut Heidersberger

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